Long Run – Bringt länger wirklich mehr?

8 Minuten

Der Mythos Longrun

Es gibt kaum eine kritischere Frage in Hinblick auf eine Marathonvorbereitung als die Frage nach dem Long Run. Was zählt als langer Lauf? Was bringt ein längerer Lauf? Und vor allem: Wie lange sollte mein Longrun bei einer Marathonvorbereitung sein? Kann ich einen Marathon schaffen, wenn ich nicht regelmäßig und wiederholt längere Läufe von über 30km laufe?

Wir wollen mit diesem Artikel ganzheitlich und wissenschaftlich fundiert aufklären. Denn es gibt wohl kaum ein Thema, das so kontrovers diskutiert wird und bei dem die Empfehlungen so stark auseinander gehen.

 

Long Run Twaiv

 

Das Wichtigste zuerst: Lange Läufe haben ihre Daseinsberechtigung

Natürlich können lange Läufe sinnvoll sein. Durch das meist höhere Volumen sind die meisten Läufer/innen eher bereit, sich einem langsamen Tempo zu widmen. Durch das langsame und stetige Laufen trainieren wir Laufökonomie, Effizienz des (Fett-)Stoffwechsels und motorische muskuläre Ausdauer:  drei essenzielle Aspekte der Marathonvorbereitung. Primär dienen die extra langen Läufe jedoch eher einer mentalen Vorbereitung.

 

Twaiv Long Run

 

Haben extra lange Läufe auch einen Extra-Vorteil?

Einen nicht unerheblichen psychologischen Effekt haben Longruns auf jeden Fall. Man fühlt sich mental gewappnet. Unter Umständen kann dies aber auch tückisch sein. Nach erfolgreich absolvierten 32km wartet noch fast ein gesamtes Viertel des Marathons auf einen. Wir wollen tunlichst vermeiden, bei Läufer/innen mit Biegen und Brechen eine „falsche Sicherheit“ zu erzeugen, indem wir Sie durch einen 35km Lauf quälen. Hat ein extra langer Lauf den überhaupt besondere Vorteile? Es gibt keine Studie, die zeigt, dass besonders lange Läufe einen additiven Trainingseffekt haben. Aus sportwissenschaftlicher Sicht ist es höchst fraglich, ob ein 35km Lauf denn so viel mehr bringt als z.B. ein 25km Lauf. In beiden Fällen läuft man langsam. In beiden Fällen trainiert man die Laufökonomie und Stoffwechseleffizienz. Klar, wenn man das 3,5 Stunden statt 2,5 Stunden lang macht, hat man generell „mehr“ davon. Aber ist „mehr“ immer auch gleich besser? Das ist wie gesagt im Falle Long Run nicht bewiesen. Und selbst wenn, wie lange ist adäquat und wie lange wäre vielleicht zu viel?

 

Wie lange muss oder SOLLTE der längste Lauf sein?

Schaut man sich die Studienlage an, gibt es Erkenntnisse, die zeigen, dass erfolgreiche Marathonläufer/innen oft auch längere Läufe absolviert haben. Schaut man sich das Ganze aber übergreifend an, findet man spannende Erkenntnisse. Eine neuere Studie hat in einer übergreifenden Untersuchung (sog. Meta-Analyse) versucht die „Dosis-Wirkung“ Beziehung von Volumentraining zu entschlüsseln. Sie kommen dabei zu folgenden Schlussfolgerungen:

Basierend auf den Ergebnissen (…) müsste eine Person, die eine Zeit von 4:00:00 erreichen möchte, im Durchschnitt 44 km oder 4,5 Stunden pro Woche laufen, um diese Zeit zu erreichen. Die wöchentliche Trainingsdistanz während des gesamten Trainingsblocks sollte bei 63 km liegen. Der längste Trainingslauf, der mit der Zeit von 4:00:00 verbunden war, betrug 23 km. Die Ergebnisse unserer Analyse legen nahe, dass Personen, die eine Marathonzeit von 4:00:00 erreichen, während ihres Trainings keinen Lauf von 32 km Länge absolvieren müssen. (übersetzt aus Doherty, 2019)

Im Schnitt müssen also „überlange“ Long Runs nicht unbedingt sein. Es geht auch ohne.

 

Tip 1: Individuell adäquate Belastung statt lange Läufe mit der Brechstange

Unser Ansatz geht über Zeit statt über Distanz! Schauen wir uns einen Sportler ganzheitlich an, dann lässt sich sehr schnell abschätzen, wieviel Training verkraftet werden kann. Ebenfalls können wir sehr gut determinieren, bei welchen Intensitäten Training absolviert werden sollte, um wirksam Effekte anzusteuern. Als Resultat davon macht es aus unserer Sicht mehr Sinn eine ZEIT als Belastung zu verschreiben, nicht eine Distanz. Denn wenn jemand Untrainierter ist, dann muss er langsamer laufen und ergo bei langen Distanzen wesentlich länger belasten. Wir belasten also 2,5 – 3 Stunden bei individuell adäquatem Pace in dem Wissen, dass dies eine individuell adäquate Belastung darstellt. Mehr wäre an der Stelle fatal, denn es gibt ebenfalls zahlreiche Studien, die belegen, dass übermäßiges Volumen schnell zu Verletzungen führen kann. Wenn man mit 2,5 – 3 Stunden laufen nicht auf eine Distanz von 30km plus kommt, dann ist das der erste Hinweis, dass das Ausdauersystem vielleicht noch nicht genügend austrainiert ist, um einen empfehlenswerten Marathon zu laufen.

 

Die Gretchenfrage: Bin ich bereit für einen Marathon?

Die Frage nach dem Long Run ist für uns weniger eine Frage des „Obs“, sondern viel mehr eine Frage des „Wanns“. Wann setze ich mich solch hohen Belastungen aus bzw. wann stelle ich mich der Tatsache, dass ich vielleicht noch nicht bereit bin für solche langen Läufe?

Machen wir uns nichts vor. Die meisten Menschen fragen sich mit dem Grübeln über die Notwendigkeit an langen Läufen doch eigentlich, ob sie bereit sind für ihren Marathon. Die Angst vor dem Mann mit dem Hammer, der drohende Einbruch irgendwo zwischen Km30 und 38 ist so groß, dass versucht wird mit einer „Generalprobe“ Sicherheit zu gewinnen. Das ist absolut nachvollziehbar! Es gibt Studien, die einen derartigen Zusammenhang beschreiben. Erfolgreiche Marathon Läufer/innen haben oft im Training längere Läufe absolviert. Was sich die meisten Menschen daraus allerdings ableiten ist etwas anderes. Ein erfolgreich absolvierter Long Run von 30km plus scheint final das „Attest“ ausstellen, dass man Marathon approved ist. Sich durch einen 30km langen Lauf zu quälen macht auf jeden Fall mental stark, klar! Aber mit dem Absolvieren eines derart langen Laufs, hat man den Marathon noch lange nicht automatisch in der Tasche! Und auch wenn Studien diesen Zusammenhang beschreiben, so halte Ich es persönlich dennoch für grob fahrlässig, wenn man Leute in einen 35km Lauf schickt, einfach nur um Sie in (möglicherweise falscher) Sicherheit zu wiegen. Ohne ganz klar zu wissen, ob sie dieser Aufgabe bereits gewachsen sind oder nicht.

Wir nutzen die effektive VO2max von Läufer/innen um einzuschätzen, wie viel Belastung sie vertragen und zu welchen Leistungen sie vermutlich im Stande sind (und zu welchen vermutlich nicht). Diese Studie zeigt, dass es wohl eine VO2max von ca. 46 ml/min/kg braucht um einen Marathon in 4-5 Stunden zu finishen. Diesen Wert erreichen viele Anfänger erst nach einiger Zeit Ausdauertraining.

 

Physiologische Vorraussetzungen und VO2max Werte erfolgreicher Marathon Finisher

 

Tip 2: Das System muskulär stärken durch alternatives Training statt mehr Laufvolumen

Statt ewig der Frage nachzueifern, ob man mehr lange Läufe machen sollte, lohnt es sich die Zeit anderweitig zu investieren. Die häufigste Ursache für Laufverletzungen ist eine mangelnde Basis und darauf zu schnell gesteigerte Trainingsvolumina. Um dem vorzubeugen ist es essenziell, dass man seinen Körper ausgleichend muskulär trainiert und mobilisiert. Viele Anfänger wandeln sich vom Schreibtischtäter zum Marathonläufer. Hier ist es nicht in der Regel so, dass die hüftumliegende Muskulatur etwas aus der Balance gekommen ist und der Körper Probleme hat, funktional zu stabilisieren. Auf diesen Zustand innerhalb von wenigen Wochen oder Monaten lange Läufe aufzusetzen ist fahrlässig. Statt eine halbe Stunde länger beim Long Run unterwegs zu sein, lieber die Zeit in Mobilisierung und stabilisierendes Krafttraining stecken! Wir behandeln das in der Twaiv App mit unserem 12-Wochen-Basisprogramm funktionalen Trainings.

 

Stabi Übungen für Läufer

 

Das generelle Problem von Korrelation vs. Kausalität

Generell stellt die Debatte über die Häufigkeit und Dauer des Longrun für mich als Sportwissenschaftler ein extrem typisches Phänomen der Wissenschaft im Allgemeinen dar. Es gibt sehr viele Studien, die belegen, dass erfolgreiche Marathonläufer/innen oft auch lange Long Runs absolvieren. Das ist irgendwie auch nachvollziehbar: Läufer, die in den Wochen hin zum Marathon lange Läufe abgerissen haben (oder abreißen konnten), haben offensichtlich einen bereits fortgeschrittenen Trainingszustand und es ist wahrscheinlich, dass sie auch den späteren Marathon erfolgreich über die Bühne kriegen. Oder anders formuliert, erfolgreich durchgeführte lange Läufe scheinen mit einem erfolgreichem Marathon zu korrelieren. Aber heißt das im Umkehrschluss auch, dass jedem ein solcher Long Run auf den Plan gesetzt werden MUSS?

Um zu zeigen, dass das nicht immer so einfach zu entscheiden ist hier ein anderes Beispiel. Nehmen wir an, eine Studie würde zeigen, dass Läufer mit Carbonschuhen im Schnitt schnellere Marathonzeiten hinlegen. Heißt das aber, dass es nur mit einem Carbonschuh möglich ist, einen schnellen Marathon zu laufen? Wohl kaum. Aber noch extremer formuliert. Ist jeder Mensch, der sich einen Carbonschuh kauft, auch automatisch in der Lage einen schnellen Marathon zu laufen? Spätestens hier wird der Unterschied zwischen einer Korrelation und einem kausalen Zusammenhang klar.

Zu viele Trainer und Trainingspläne setzen auf lange Läufe, weil sie sich bewährt haben. Aber was ist mit den Menschen, die auf der Strecke geblieben sind und die langen Läufe nicht geschafft haben?

Compatible with Strava